Bildgebungen

Miriam Szwast

Bilder und Bildgebungen im frühen 20. Jahrhundert

»In der Kunst des Straussbindens brachte man es nun nach wenigen Jahren wirklich sehr weit«, schrieb der Kunsthistoriker Alfred Lichtwark im gerade frisch angebrochenen 20. Jahrhundert.

Da grüne Blätter für roh galten, suchte man nach braunen und gelblichen, und wenn eine Blume nur grüne Blätter hatte, so wurde der Fehler verbessert, indem man ihr die braunen einer anderen andrahtete. Ich habe in Berlin jahrelang die Rosen nur mit den gelben oder braunen Blättern der Mahonia gesehen, nie mit ihren eigenen, und wer vor einem Berliner Blumenladen stand, konnte sich nur mit Mühe überzeugen, dass die »Arrangements«, die da auf dem schwarzen Sammet lagen, wirklich aus lebenden Blumen hergestellt waren und nicht aus künstlichen. […] Eine neue Technik pflegt sich, wie man weiss, mit unheimlicher Schnelle zu entwickeln. Bald war man mit dem Draht allein nicht zufrieden, sondern sah den Verfertigern künstlicher Blumen auch noch das grüne, gelbe und braune Papier ab, mit dem sie die Stengel umwickeln. Damit war der phantastischen Erfindung die letzte Schranke niedergerissen. Jeder Gang durch die Strassen Berlins brachte eine neue Überraschung. Da gab es grosse Zweige von seltsamen blauen Blumen in Blütenständen, die weder nach dem Prinzip der Dolde, Rispe noch Traube gebaut waren, und die man nie gesehen hatte. Trat man näher, so waren es Hyazinthenblüten, von ihrem Stengel gerissen und an langen, grün umwickelten Drähten zu Blütenständen vereinigt, die es gar nicht gibt. Ähnlich wurden alle anderen kleinen Blumen behandelt, die es sich nur irgend gefallen liessen. Ein besonders geschickter und berühmter Binder kam schliesslich auf noch kühnere Einfälle. Er pflegte einzelne Blumenblätter auszureissen, um neue Formen zu bekommen, oder er zupfte alle Blumenblätter weg und liess nur den Kelch stehen, was namentlich bei den Georginen die seltsamsten Effekte gab. Und durch die Hilfe des Drahtes brauchte er sich nun nicht auf die Form des Strausses zu beschränken und konnte alle möglichen Dinge und Geschöpfe mit dem Baustoff der Blumen und Blätter nachahmen. Zwar erhoben jetzt die Blumenfreunde ein lautes Wehklagen, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre von den sinnigsten unter ihnen […] ein Blumenschutzverein gegründet worden […]. Aber das Publikum war nun stolz geworden auf die Leistungen seiner Binder, die es kurz zuvor nicht hatte ausstehen können, und man bekam zu hören und zu lesen, dass Berlin in der Kunst des Blumenbindens Paris und London weit überboten hatte.[1]

Die einen feierten die Ästhetik der artifiziellen Blumengebilde, die anderen hätten am liebsten einen Blumenschutzverein gegründet. Die einen standen noch immer fest im Glauben eines anthropozentrischen Weltbildes, die anderen fanden in den Blumen Lebewesen mit eigenen Rechten. Der Nonhuman Turn, die Wende zum Nichtmenschlichen, ist offensichtlich älter als sein Name. Er stellt die vermeintliche Einzigartigkeit und Überlegenheit der menschlichen Lebensform infrage, und dieser Sonderstatus beruht seit Jahrtausenden auf der Behauptung einer Gegensätzlichkeit vom Menschlichen und Nicht-Menschlichen, etwa von Mensch und Pflanze, Mensch und Tier oder Mensch und Ökosystem.[2] In der christlich-antiken Denktradition wurde hierarchisch unterschieden zwischen der anorganischen und der organischen Welt, wobei Pflanzen dicht am Gestein angesiedelt waren; es folgten Tiere und an der Spitze der Hierarchie der Mensch – über ihm nur noch himmlische und göttliche Wesen. Wenn das ein Mythos ist und wir in diesem Sinne nie Menschen gewesen sind, muss daraus eine fundamentale Verunsicherung folgen, ausgelöst durch die Erkenntnis, wie blind solche Überlegenheitsvorstellungen diejenigen gemacht haben, die daran glaubten. Hören wir also auf jene Stimmen und schauen auf jene Bilder, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts vom komplizierten, ideologisierten Verhältnis des Menschen zur Pflanze erzählen.

Karl Blossfeldt, Impatiens glanduligera, Balsamine, Springkraut, Stengel in naturgetreuer Größe, 1900/1928. Museum Ludwig, Köln, ML/F 1980/0356/04

Ein Fotobuch, das zur freudigen Überraschung seines Herausgebers schon bei der Veröffentlichung auf großes Interesse stieß, trägt den Titel Urformen der Kunst, im Englischen als Art Forms in Nature publiziert. Darin enthalten sind fotografische Vergrößerungen von Pflanzenteilen in Schwarz-Weiß, aufgenommen von Karl Blossfeldt. »Die Photographien«, schrieb der Philosoph Walter Benjamin in Bezug auf Blossfeldts Bilder, »erschließen im Pflanzendasein einen ganz unvermuteten Schatz von Analogien und Formen.«[3] Tatsächlich waren es die Formen und ihre Tektonik, die Blossfeldt an den in Europa und Nordafrika gepflückten Pflanzen interessierten. Ihre Namen, Fundorte oder Verwendung recherchierte er nicht, und einem Blumenschutzverein hätte er sich wohl genauso wenig angeschlossen. Es war seine Galerist Karl Nierendorf, der die lateinischen Pflanzennamen nachträglich zuordnen ließ und in der Legende am Ende des Buches auflistete, als habe man es doch noch mit einem Herbarium zu tun. Blossfeldt schnitt die »wildwachsenden«[4] Pflanzen aus ihrem natürlichen Habitat oder auch aus den vor Menschen geschützten Arealen im Berliner Botanischen Garten heraus. »Um nun zum Ziele zu kommen, bin ich nach Dahlem gefahren – habe 1 Mark Entrée bezahlt und stand nun vor dem […] eingezäunten System. Durch eine verbotene Thür fand ich Eingang und habe dann die Pflanze einfach gestohlen«,[5] schrieb er und evozierte, bewusst oder unbewusst, alttestamentarische Vorstellungen vom Paradiesgarten und seinen verbotenen Früchten. Die »Botanische Zentralstelle für die deutschen Kolonien«, im Botanischen Garten Berlin ansässig, forschte derweil an importierten Pflanzen für eine Intensivierung der Plantagenwirtschaft in den deutschen Kolonien. Blossfeldt steckte die Pflanze nach ihrem Raub in Knetmasse und nahm ihr Foto vor einem neutralen Hintergrund auf, damit seine Bilder als Vorlagenmaterial für Kunstgewerbler*innen dienen mochten. Dabei setzte er nicht nur die Kamera mit ihren Möglichkeiten zur Vergrößerung ein, sondern stutzte die Pflanzen vor der Aufnahme so sehr zurecht, dass sie botanisch teils nur schwer zu bestimmen, in ihrer nackten Form dafür umso klarer sind. »Kein Pilzbefall, keine Blattlaus, kein Wurzelwerk […] bringen das Pflanzenwerk in ein irritierendes Ungleichgewicht […]«, bemerkt Judith Elisabeth Weiss.[6] Nichts in Blossfeldts Aufnahmen zeugt mehr davon, dass die Pflanze einmal in Verbindung stand zur Erde, zu anderen Pflanzen, zu Tieren. Im White Cube des Bildraums sind sie zum extrahierten, kontrollierten Artefakt geworden.

Karl Blossfeldt, Küchenschelle, mit Knetmasse fixiert, vor 1926. Archiv der Universität der Künste Berlin / SLUB / Deutsche Fotothek

»Indem die Modernen die Natur gleichsam auf ihre rein materiellen Eigenschaften reduzierten, sie von symbolischen Bedeutungen und sozialen Beziehungen reinigten, vermochten sie diese auf eine Art und Weise zu manipulieren, die in vormodernen Verhältnissen undenkbar gewesen wäre«,[7] schreibt der Philosoph Alf Hornborg. Fotografien von vereinzelten, vor neutralem Hintergrund porträtierten Pflanzen sind im frühen 20. Jahrhundert tatsächlich häufig zu finden, bei Aenne Biermann wie bei Albert Renger-Patzsch oder eben Karl Blossfeldt. Stillleben würde man sie kaum nennen, zu quasi-wissenschaftlich wirken sie in ihrer Vereinzelung, gesteigert noch durch die vermeintliche Objektivität der Bildtechnik. Auf ihre Form und Textur reduziert wirken die Pflanzen im Bild sachlich, statisch, unveränderlich. »Trotz der Hochflut volkswissenschaftlichen Schrifttums, die in den letzten Jahrzehnten deutsche Lande überschwemmte und ihre Wellen bis in die letzten Siedlungen trug, steht die breite Masse der Pflanze als Lebewesen vollkommen verständnis- und teilnahmslos gegenüber. […] Das Tier lebt, die Pflanze aber nicht, das ist die landläufige Ansicht«, beobachtete Friedrich Morton 1920 in seinen Pflanzenphysiologischen Plaudereien.[8] Auf Blossfeldt mag das zutreffen, mit der Bekanntwerdung von botanischen Zeitrafferfilmen sollte sich das allerdings für viele ändern. Der Pflanzenphysiologe Wilhelm Pfeffer hatte 1898 bis 1900 am Botanischen Institut der Universität Leipzig »kinematographische Studien« von Blattbewegungen angefertigt, die drei Tage auf wenige Sekunden zusammenkürzten und vor weißem Hintergrund ein unruhiges Auf und Ab der Blätter vorführten.

Wilhelm Pfeffer, Kinematografische Studien an Mimosa und Desmodium, 1898/1900, Auszug

Abgesehen von ihren Bewegungen war es auch die Reizbarkeit von Pflanzen, die Pfeffer eine natürliche Grenze zwischen Pflanze und Tier anzweifeln ließ. Reizbarkeit, bei der tropischen Mimose mit dem bloßen Auge zu erkennen, sei nämlich eine »fundamentale Eigenschaft aller lebendigen Substanz«.[9] Einem breiten Publikum wurden Zeitrafferaufnahmen von Pflanzen aber erst mit dem Film Das Blumenwunder von Max Reichmann vertraut. 1926 war er in die Kinos gekommen, lief also zeitgleich zu Blossfeldts Ausstellung in der Galerie Nierendorf und war ein Publikumserfolg. Auch am Dessauer Bauhaus soll er »uneingeschränkten Beifall«[10] erhalten haben. Der Philosoph und Anthropologe Max Scheler schrieb nach dem Kinobesuch: »Man sieht die Pflanzen atmen, wachsen und sterben. Der natürliche Eindruck, die Pflanze sei unbeseelt, verschwindet vollständig. Man schaut die ganze Dramatik des Lebens – die unerhörten Anstrengungen.«[11] Andere empfanden Das Blumenwunder als »unheimlich wie ein Albdruck« und die Bewegungen der Pflanzen als »gespenstisch«.[12] Vor schwarzem Hintergrund sind Pflanzenaufnahmen im Zeitraffer zu sehen, rankende Kürbisse, sich öffnende Strelizienblüten. Dazwischen, teils überblendet, allegorische Tanzszenen, ein Florio-Ballett. Die Aussage der Zwischentitel: Pflanzen haben einen Puls wie der Mensch, sie leben. Eine dramatisierende Begleitmusik steigert die Wirkung.

Scheler sah Mensch und Pflanze über den »Gefühlsdrang« miteinander verwandt und führte dafür das autonome vegetative Nervensystem an, dachte beide also von innen her.[13] Populär wurde die Vorstellung einer Pflanzenseele, wie sie schon Gustav Theodor Fechner beschrieben hatte, während Sigmund Freud der Menschheit eine signifikante Kränkung zugefügt haben soll, als er dem menschlichen Bewusstsein weniger Ratio zubilligte als in der Scala Naturae gefeiert.[14] Das Unbewusste, Triebhafte – man beachte auch hier die vegetabile Vokabel – lenke den Menschen weit mehr als dem rationalen Verstandesmenschen der westlichen Moderne geheuer. Jagadish Chandra Bose, Physiker und Botaniker in Kalkutta (heute Kolkatta), Indien, sorgte mit Büchern wie Die Pflanzen-Schrift und ihre Offenbarungen, das 1928 auch auf Deutsch erschien, weltweit für Aufhorchen. »Wenn es den wissenschaftlichen Westen damals in zwei Formen gab – der erste materialistisch, mechanistisch und kolonial, der zweite vitalistisch, ökologisch oder organizistisch, hatte sich die Welt der Pflanzenphysiologen in den späten 1920er Jahren entlang dieser Linie klar polarisiert in ›Bosephile‹ und ›Bosephobe‹«, schreibt Virginia A. Shepherd.[15] Bose entwickelte sensible Aufzeichnungsinstrumente, die in der Lage waren, Bewegungen von Pflanzen zu registrieren, ihre Sauerstoffproduktion zu quantifizieren oder die Zirkulation von Flüssigkeit in ihrem Inneren zu dokumentieren.

Resonanz-Rekorder, in: Jagadis Chunder Bose, Die Pflanzen-Schrift und ihre Offenbarungen, Zürich und Leipzig: Rotapfel 1928
Reaktionskurve einer Mimosa, Wirkung vorüberziehender Wolken, in: Jagadis Chunder Bose, Die Pflanzen-Schrift und ihre Offenbarungen, Zürich und Leipzig: Rotapfel 1928

Nach Versuchen mit der tropischen Mimose notierte er:

Wie menschenähnlich benimmt sich die Pflanze da überall! Ja, in gewisser Hinsicht können wir bei der Pflanze Fähigkeiten finden, welche die des Menschen noch übertreffen! Ich wurde hierauf eines Tages aufmerksam[,] als ich in meinem Laboratorium eine Reaktionskurve von Mimosa aufnahm. Ich erhielt eine gleichförmige Kurve; doch mit einem Male verkleinerten sich die Ausschläge; ich konnte dafür zunächst keine Ursache finden, da alle Außenbedingungen unverändert zu sein schienen. Als ich aber zum Fenster hinausblickte, bemerkte ich einen Gruppe Wolken, die vor der Sonne vorbeizogen. Die Pflanze hatte die ganz leichte Verdunklung wahrgenommen, die ich nicht bemerkt hatte. Als die die Wolken vorüber waren, erhielt sie Pflanze ihre normale Vollkraft wieder, wie die registrierte Kurve erkennen lässt.[16]

Ernst Fuhrmann, Die Pflanze als Lebewesen, Frankfurt am Main: Societäts-Verlag 1930
James Small, Geheimnisse der Botanik, Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung 1929

Wie im Fall der Zeitrafferfilme führte auch hier die Sichtbarmachung von Vorgängen durch neue Apparaturen zu einer Revision der Bewertung der Pflanze; eine schwarze Fläche, darauf weiße Linien und Punkte wurden von Bose als »selbstgeschriebene[n] Dokumente«[17] gelesen. Und Ernst Fuhrmann legte mit seinem Buch Die Pflanze als Lebewesen nach. Vor schwarzem Hintergrund, mitunter dramatisch beleuchtet, folgt ein Pflanzenporträt dem nächsten. »In jahrelanger Beschäftigung mit der Pflanze ist es uns immer mehr zum Bewusstsein gekommen, daß die Pflanze nicht einfach wie ein ästhetisches Gebilde dasteht, sondern daß sie ein aktiv schaffendes Wesen ist«, schrieb er, der sich als Biosoph verstand.[18]

Gustav Meyrink verarbeitete das Rumoren in der (Populär-)Botanik zum vegetabilen Horror. In Die Pflanzen des Dr. Cinderella wird eine Begegnung zwischen Mensch und Pflanze zum Albtraum:

Mir wurde kalt vor Grauen, und ich schlich den Gang weiter, seiner Krümmung entlang. Einmal faßte ich nach der Mauer und griff dabei in ein splittriges Holzgitter, wie man es verwendet, um Schlingpflanzen zu ziehen. Es schienen auch solche in großer Menge daran zu wachsen, denn ich blieb fast hängen in einem Netz stengelartigen Geranks. Das Unbegreifliche war nur, daß sich diese Pflanzen, oder was es sonst sein mochte, blutwarm und strotzend anfühlten und überhaupt einen ganz animalischen Eindruck auf den Tastsinn machten. Ich griff noch einmal hinein, um erschreckt zurückzufahren: ich hatte diesmal einen kugeligen, nußgroßen Gegenstand berührt, der sich kalt anfühlte und sofort wegschnellte. War es ein Käfer? In diesem Moment flackerte ein Licht irgendwo auf und erhellte eine Sekunde lang die Wand vor mir. Was ich je an Furcht und Grauen empfunden, war nichts gegen diesen Augenblick. Jede Fiber meines Körpers brüllte auf in unbeschreiblichem Entsetzen. Ein stummer Schrei bei gelähmten Stimmbändern, der durch den ganzen Menschen fährt wie Eiseskälte. Mit einem Rankennetz blutroter Adern, aus dem wie Beeren Hunderte von glotzenden Augen hervorquollen, war die Mauer bis zur Decke überzogen. Das eine, in das ich soeben gegriffen, schnellte noch in zuckender Bewegung hin und her und schielte mich bösartig an. […] Und alles schienen Teile, aus lebenden Körpern entnommen, mit unbegreiflicher Kunst zusammengefügt, ihrer menschlichen Beseelung beraubt, und auf rein vegetatives Wachstum heruntergedrückt.«[19]

Das beschriebene Gewächs als unheimliche Variante jener floristischen Gebilde, die Lichtwark in den Auslagen der Blumenläden sah – verkehrte Machtverhältnisse. Charles Darwin brach das bis dato im Westen verbreitete kategoriale Gefüge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, indem er eine Evolutionstheorie entwarf, die von steter Verwandlung und Verästelung sprach, Tier und Mensch in Verwandtschaft fand und in seiner Beschäftigung mit der fleischfressenden Pflanze wissenschaftlich belegte, was in der Hierarchie der Nahrungskette als undenkbar galt: Ja, es gibt auch Pflanzen, die Tiere essen. Ja, die Übergänge sind fluide. Und die sich selbst als vernunftbegabt feiernde Moderne? Die wurde im wahrsten Sinne erschüttert, als am 21. September 1921 eine Explosion ungekannten Ausmaßes den Südwesten Deutschlands bis in die Schweiz und Frankreich beben ließ. Von Zürich bis Göttingen war sie zu spüren, in einem Umkreis von 75 Kilometern um Oppau, dem Ort der Detonation, zerbarsten Scheiben, 559 Menschen starben, nahezu 2.000 Menschen wurden verletzt und ebenso viele obdachlos. Bilder der Verwüstung gingen um die Welt.

Explosionskrater im BASF-Stickstoffwerk, Oppau, 1921. BASF Archiv

Ein Krater von 165 Metern Länge, 96 Metern Breite und über 18 Metern Tiefe blieb von dem Ort übrig, an dem ein Düngemittelsilo der Firma BASF gestanden hatte.[20] »Während heute«, schreibt Christian Haller 2012, »weltweit 90 % des Stickstoffs […] mit dem Haber-Bosch-Verfahren bei über 1 % des weltweiten Energieverbrauchs gewonnen werden, auf die sich per Dünger die Ernährung nahezu der Hälfte der Erdbevölkerung stützt, war die Stickstoffindustrie 1921 noch eine sehr junge Entwicklung. So wurde im 19. Jahrhundert als Ergänzung des natürlichen Stalldungs erstmals stickstoffhaltiger Salpeter als Dünger aus Chile eingeführt.«[21] Die Hungersnot während und in der Folge des Ersten Weltkriegs konnte dank der Verwandlung von Stickstoff in Dünger (ein weiteres Produkt war Munition) gelindert werden. Man ließ Pflanzen mithilfe der Naturwissenschaften zuverlässig schnell und nutzbar wachsen, und viele wurden satt. Salpeter aus Chile, so lautete die Prognose, sei bis 1930 erschöpft.[22] Ob Karl Schmidt-Rottluff wusste, dass die von ihm gemalten Lupinen in der Vase erst kürzlich und aus der Not heraus als Nahrungspflanze eingeführt worden waren, überhaupt erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts den Weg von Sizilien nach Deutschland und wegen ihrer guten Erträge rasche Verbreitung gefunden hatten?[23]

Karl Schmidt-Rottluff, Lupinen im Zimmer, 1921. Museum Ludwig, Köln, ML/Z 1950/178

Viereinhalb Jahre nach der Explosion feierte der Film Das Blumenwunder Premiere. »Hier [im Jugendstil] taucht, zunächst nur programmatisch, zum ersten Mal die Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität auf, welche seitdem wachsend sich als Symptom der Krise bestätigt hat«, analysierte Walter Benjamin.[24] Blumenwunder und Zimmergärten als Flucht aus einer Krise?

»Die Innenräume verschließen sich nicht mehr der Außenwelt, sondern ermöglichen ein Hineinleben in die Natur. […] In Freiräumen auf breiten Terrassen und flachem Dach verbünden wir uns mit der Natur, die uns freien Atemraum gibt […]. An den Fenstern behindern den klaren Durchblick keine Wolken von Gardinen, wie sie bisher den Lichteinlass dämpften und verringerten«, las man 1932 in der Zeitschrift Deutsche Wohnung der Gegenwart.[25]

Im Gemälde Braune Figuren im Café öffnete Ernst Ludwig Kirchner die Aussicht aus seiner Schweizer Berghütte – zu erkennen an der gestreiften Markise – auf eine fantasierte, vielleicht tropische Flusslandschaft.

Ernst Ludwig Kirchner, Braune Figuren im Café, 1928/1929. Museum Ludwig, Köln, ML 10263

Während im Außen, im Hintergrund, Menschen im gleißenden Sonnenlicht vor einem breiten Fluss (?) und üppiger Vegetation zu sehen sind, sitzen vorne im Innenraum des Cafés drei verschattete Figuren – womöglich Kirchner zwischen seiner Partnerin Erna Schilling und der Tänzerin Nina Hard; beide trugen Bubikopf wie die Figuren im Bild. Auffällig groß schieben sich zwei Topfpflanzen vor die gebogenen Konturen der gemalten Frauen. Ein Attribut, ein Verknüpfen der Freundinnen mit ihrem »Ur-Ich«,[26] wie Alfred Döblin die Natur 1927 bezeichnete, die ihm im Berliner Botanischen Garten, aus dem Blossfeldt seine Urformen stahl, inmitten der Inflation Trost und Ruhe spendete? Trost und Ruhe fand Kirchner letztlich nicht genug. Unverwandt sitzt er dem satten Grün der sich streckenden Pflanze gegenüber.     

Download PDF Bildgebungen


  1. Alfred Lichtwark, Die Grundlagen der künstlerischen Bildung. Markartbouquet und Blumenstrauss, 2. Aufl. Berlin: Cassirer 1905, S. 8–10.
  2. Siehe Richard Grusin (Hrsg.), The Nonhuman Turn, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2015, S. x.
  3. Walter Benjamin, »Neues von Blumen«, in: Die literarische Welt, 23.11.1928. Online: https://www.textlog.de/benjamin-kritik-neues-blumen-urformen-kunst.html.
  4. Karl Blossfeldt, zit. n. Judith Elisabeth Weiss, Disziplinierung der Pflanzen. Bildvorlagen zwischen Ästhetik und Zweck, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2020, S. 12.
  5. Karl Blossfeldt, zit. nach ebd., S. 54.
  6. Ebd., S. 110.
  7. Alf Hornborg, »Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis«, in: Irene Albers und Anselm Franke (Hrsg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: diaphanes 2012, S. 55–66, hier S. 55.
  8. Friedrich Morton, Aus den Werkstätten des Lebens. Pflanzenphysiologische Plaudereien, Leipzig: Theod. Thomas 1920, S. 5.
  9. Wilhelm Pfeffer, Die Reizbarkeit der Pflanzen, Nürnberg 1893, S. 70.
  10. Anonyme Rezension im Filmkurier, zit. n. Ines Lindner, »Benjamin, Blossfeldt und ›Das Blumenwunder‹«, in: dies. (Hrsg.), gehen blühen fließen. Naturverhältnisse in der Kunst, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2014,  S. 203–220, hier S. 206.
  11. Max Scheler, zit. n. Gertrud Koch, Die Wiederkehr der Illusion. Der Film und die Kunst der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2016, S. ##.
  12. Lindner, »Benjamin, Blossfeldt und ›Das Blumenwunder‹«, S. 220.
  13. Siehe ausführlicher zu Schelers Rezeption des Blumenwunders Matthew Vollgraff, »Vegetal Gestures. Cinema and the Knowledge of Life in Weimar Germany«, in: Grey Room, 72, 2018, S. 68–93. DOI: 10.1162/grey_a_00252; Wolfgang Eßbach, »›Des Menschen Tage sind wie Gras‹. Ein Dissens über Wachstum in der Philosophischen Anthropologie«, in: Heike Delitz, Frithjof Nungesser und Robert Seyfert, Soziologie des Lebens, Bielefeld: transcript 2018, S. 199–218. DOI: 10.1515/9783839445587-008.
  14. Gustav Theodor Fechner, Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen, Leipzig: Voß 1848. Online: https://www.projekt-gutenberg.org/fechner/nanna/nanna.html; Sigmund Freud, »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften,15, 1917, S1–7. Online: https://www.gutenberg.org/files/29097/29097-h/29097-h.htm.
  15. Virginia A. Shepherd, »At the Roots of Plant Neurobiology. A Brief History of the Biophysical Research of J. C. Bose«, in: Science and Culture, Mai/Juni, 2012, S. 196–210, S. 197. Online: https://www.esalq.usp.br/lepse/imgs/conteudo_thumb/At-the-Roots-of-PlantT-Neurobiology-A-Brief-History-of-the-Biophysical-Research-of-J-C–Bose.pdf.
  16. Jagadis Chunder Bose, Die Pflanzen-Schrift und ihre Offenbarungen, Zürich und Leipzig: Rotapfel 1928, S. 39–40.
  17. Ebd., S. 12. Sria Chatterjee sieht in Boses Versuchen, den Pflanze Schrift und Sprache zu geben, einen Verweis auf die eigene Erfahrung als kolonialisierte Person. Siehe Sria Chatterjee, »The Arts of Science in the Contact Zone. A Satirical Picture«, in: Eva-Maria Troelenberg, Kerstin Schankweiler and Anna Sophia Messner (Hrsg.), Reading Objects in the Contact Zone, Heidelberg: Heidelberg University Publishing, 2021 (Heidelberg Studies on Transculturality, Bd. 9), S. 181–187, hier S. 186. DOI: 110.17885/heiup.766.c10423.
  18. Ernst Fuhrmann, Die Pflanze als Lebewesen. Eine Biographie in 200 Aufnahmen, Frankfurt am Main: Societäts-Verlag 1930, o. S.
  19. Gustav Meyrink, »Die Pflanzen des Dr. Cinderella«, in: Des Deutschen Spießers Wunderhorn, München: Albert Langen 1913. Online: https://www.projekt-gutenberg.org/meyrink/wunderho/cinderel.html; siehe dazu aus das Kapitel »The Radical Other: The Metamorphosis of Humans and Animals into Plants in Gustav Meyrink’s ›Die Pflanzen des Doktor Cinderella‹«, in: Janet Janzen, Modernity Gazing on Metamorphosis. Representations of Plants in German Language Film and Literature at the Beginning of the 20th Century, Diss. McGill Universität, Montreal, 2014, S. 113–133. Online: https://escholarship.mcgill.ca/concern/theses/bg257j10z.
  20. Christian Haller, »Das Explosionsunglück in der BASF vom 21. September 1921. Katastrophenwahrnehmung und -verarbeitung in Presse, Politik und Fachwelt«, 2012. Online: https://regionalia.blb-karlsruhe.de/frontdoor/deliver/index/docId/8837/file/BLB_Haller_Explosionsunglueck_BASF.pdf.
  21. Ebd., S. 346.
  22. Jörg Albrecht, »Brot und Kriege aus der Luft. 100 Jahre Haber-Bosch-Verfahren«, in: FAZ, 14.10.20118. Online: https://www.faz.net/aktuell/wissen/physik-mehr/100-jahre-haber-bosch-verfahren-brot-und-kriege-aus-der-luft-1713668.html.
  23. C. Brahm, »Über Lupinen und Lupinenverwertung«, in: Zeitschrift für angewandte Chemie, 35, 8, 1922, S. 45-48, hier S. 45. DOI: 10.1002/ange.19220350802; siehe auch A. Fischer und R. v. Sengbusch, »Geschichte des Lupinenanbaus und die Verbreitung der Lupinen in Deutschland, sowie die Möglichkeiten der Erweiterung des Lupinenanbaus«, in: Der Züchter, 5, 1935, 182–187.
  24. Walter Benjamin, »Rückblick auf Stefan George«, in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels Bd. 3, Frankfurt am Main 1975, S. 392–399, hier S. 394.
  25. Walter Müller-Wulckow, Deutsche Wohnung der Gegenwart, Königstein i. Taunus und Leipzig 1932, S. 91. 
  26. Alfred Döblin, zit. n. Carl Gelderloos, »Das Ich über der Natur«, in: Sabina Becker (Hrsg.), Döblin Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Heidelberg und Berlin: J.B. Metzler 2016. Online: https://mla.hcommons.org/deposits/objects/hc:10064/datastreams/CONTENT/content.