Exotismus

Suzanne Pierre

Imaginärer Exotismus und der Kaktus

Lange bevor es Menschen gab, entwickelten Pflanzen einen Weg zur autarken Nahrungsproduktion, der selbst den heißesten und trockensten Bedingungen der Erde standhielt. Die Nahrungsproduktion von Kakteen, der sogenannte Crassulaceen-Säurestoffwechsel oder die CAM-Fotosynthese, entwickelte sich in einer Weise, die die Grenzen dessen sprengte, wo und wann diese Pflanzen leben und wachsen können – was sie zu hochspezialisierten und einzigartigen Gewächsen in den Trockengebieten der Welt machte. Angesichts der besonderen Anforderungen an ihren Lebensraum waren Kakteen in Europa von Natur aus Fremdkörper, und die Pflanze wurde zu einem Marker für die Interaktionen des Kontinents mit entlegenen Orten. Obwohl sich Kakteen Millionen von Jahren entwickelten, bevor sich die Menschen eine Meinung über sie bildeten, wurden die uralten Pflanzen zu Stellvertretern für Konzepte des Exotischen, für die Nähe des Menschen zur Natur und für die Arten von Lebewesen, die Wertschätzung und damit Pflege verdienen. Die Einstellungen der Europäer*innen zu Kakteen im Besonderen spiegelten die fortschreitende Kolonisierung und den Rassebegriff wider und machten diese Pflanzen zu unfreiwilligen Helfern bei der Alterisierung jener menschlichen Gemeinschaften, die den Lebensraum dieser Kakteen teilen und nun zu Anderen wurden, derer man sich leicht entledigen konnte.

Gegen Ende des 15. Jahrhunderts setzten in Westeuropa und auf dem gesamten Globus zwei miteinander verflochtene Prozesse ein. Nach mehreren Jahrhunderten »Entdeckungsreisen« hatte sich die Schifffahrt als eine Macht etabliert, die Schneisen durch Raum und Zeit schlug und den Einflussbereich der europäischen Wirtschaft weit über den Kontinent hinaus ausdehnte. Auf der Suche nach neuen Gebieten, die sie erforschen und deren Ressourcen sie erschließen konnten – die fruchtbaren Böden der Westindischen Inseln eigneten sich für den Anbau von Baumwolle, Zuckerrohr und Kaffee, und an der Westküste Afrikas konnte man Erz und Gold abbauen – trafen die Europäer*innen auch auf menschliche Gemeinschaften, von denen sie die Bezeichnung, Gewinnung und Nutzung dieser natürlichen Ressourcen lernten.

Indigene Gemeinschaften in den Trockengebieten der Erde verfügten über unzählige Generationen von Wissen, das – wenn es zu Zwecken der Kolonisierung genutzt wurde – die Erkundungen für die Europäer*innen sicherer und profitabler machte. Für indigene Gemeinschaften auf der ganzen Welt ist es nach wie vor eine Frage des Überlebens und der Spiritualität, Kakteen genauestens zu kennen und eine Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Aufgrund ihres einzigartigen Prozesses der Fotosynthese sind Kakteen in der Lage, Wasser in ihren dicken, wachsartigen Strukturen zu konservieren und zu speichern, was sie zu lebenswichtigen Nahrungslieferanten für ein ganzes Netzwerk von Arten macht. Die Diné und die Caxcan, indigene Völker im heutigen Arizona beziehungsweise Mexiko, nutzten Kakteen in ihren gemeinsamen Lebensräumen auf nachhaltige Weise. Die Kakteen versorgten sie mit Pigmenten, Fasern und Entheogenen für spirituelle Erfahrungen, außerdem waren sie kosmologische Wegweiser in Ursprungsgeschichten.[1] Im Gegensatz dazu betrachteten europäische Kolonialwissenschaftler*innen und Pflanzensammler*innen Kakteen und andere fremde Pflanzen als Sammelobjekte und Handelsware und verkauften diese kulturell und ökologisch bedeutsamen Pflanzen als Statussymbole. Die Normalisierung der kolonialen Beziehungen der Europäer*innen zu Pflanzen – eine Dynamik von Beobachter*in und Beobachtetem, Benutzer*in und Benutztem – minderte den Wert tiefer indigener Beziehungen zu Organismen wie Kakteen. Europäische Wissenschaftler*innen betrachteten Menschen und Pflanzen als grundverschieden, sodass ihre Ansichten über die Mensch-Pflanze-Interaktion zu Stellvertretern dafür wurden, wie entwickelt, zivilisiert und letztlich wie »menschlich« verschiedene Gruppen von Menschen waren. Diese Ansichten wurden Teil eines mächtigen Ideenkomplexes, der zu einer der bedeutendsten europäischen Erfindungen beitrug: dem Rassebegriff.[2] Die Vorstellung, dass Gruppen von Menschen grundsätzlich anders und hierarchisch strukturiert sind, durchdrang die Logik und Maschinerie aller kolonialen Projekte, auch die Jagd nach Pflanzen wie exotischen Kakteen.

In den meisten Regionen Westeuropas gibt es keine Kakteen. Auslöser für die Faszination und Nachfrage bei der westeuropäischen Elite war möglicherweise die extreme Fremdartigkeit von Kakteen – ihr Aussehen, ihre Fähigkeit, sich an intensives Sonnenlicht und trockene Bedingungen anzupassen. Der Wunsch nach exotischen Kakteensammlungen sowie deren Wert mag auch vom Bewusstsein für ferne Kolonien, ohne die Möglichkeit oder Bereitschaft, mit ihnen in Kontakt zu treten, geprägt gewesen sein. Die trockenen, stacheligen Wälder der Westindischen Inseln gehörten zu den ersten, die von Naturforschern erkundet wurden – den frühen Universitäts- und Museumsbiologen, die die Scharen von geldgierigen Forschungsreisenden und Verwaltern begleiteten, um neue Organismen zu katalogisieren und neue Länder zu »zivilisieren«. Bei ihrer Rückkehr sollten diese Männer neue Ressourcen zurückbringen in das, was in ihren Augen das Herzstück der Zivilisation war – Westeuropa. In botanischen Sammlungen in Europa tauchten Kakteen bereits im 16. Jahrhundert auf, als der Opuntia-Kaktus, auch bekannt als Feigenkaktus, in Sammlungen Eingang fand und als Nahrungsquelle für die Cochenilleschildlaus eingeführt wurde, aus deren Weibchen ein roter Farbstoff gewonnen wird.[3] Das charakteristische Erscheinungsbild von Kakteen und der besondere Lebensraum, den sie für ihr Wachstum benötigen, machten sie zu einer Besonderheit, die mehr mit Raritäten als mit ihrem Ursprungsland in Verbindung gebracht wurde.[4] Umgekehrt galten die ursprünglichen Verbreitungsgebiete von Kakteen als unwirtlich und nur für primitivere Völker geeignet – Menschen, die es dem Rassebegriff zufolge verdienten, zur Unterwerfung gezähmt oder einfach gewaltsam ausgerottet zu werden, aber niemals als Kostbarkeiten nach Europa gebracht wurden.[5]

Monster-Kaktus in den Royal Botanical Gardens, Kew, 19. Jahrhundert

Die mächtigsten Europäer*innen betrachteten Kakteen als unschätzbare, staunenswerte Güter; gleichzeitig erfanden sie tödliche Geschichten über eben jene Menschen, die die Herkunft der fremden Pflanzen teilten.[6] Die Geschichte der Rasse wurde zu einem wichtigen Instrument, um Menschen und Länder jenseits der europäischen Grenzen zu beherrschen und gleichzeitig die Vorstellungen von exotischen Pflanzen zu verdrängen. Wenn nicht-weiße Menschen nicht menschlich waren wie die Europäer, sondern etwas Minderwertiges und Gottloses, konnte alles, was ihnen angetan oder genommen wurde, gerechtfertigt werden. Pflanzen, die in Europa unbekannt waren, wurden aus ihrem Umfeld gerissen und in Museen, Arboreten, Privatsammlungen und schließlich in moderne Wohnungen und Häuser verpflanzt, wo sie ohne die Ökosysteme existierten, die sie einst mit den unterdrückten und ausgegrenzten Menschen in Übersee teilten. Die Exotisierung und Wertschätzung von Pflanzen ging einher mit der Rassifizierung und Herabsetzung von Menschen. Die physische Präsenz nicht heimischer Pflanzen in Europa als Zeichen für Reichtum, Status, Häuslichkeit, Kultur und Sexualität trug zur Aufwertung des kolonialen Projekts bei und schuf glatte, von »wilden« Anderen bereinigte konzeptionelle Oberflächen, auf die europäische Vorstellungen von Natur, Adel, Biologie, wissenschaftlicher Strenge und kolonialer Tugend projiziert wurden. Ungewollt wuchsen Pflanzen wie Kakteen durch den Zufall ihrer Biogeografie und Evolutionsgeschichte nicht mehr wild in ihren natürlichen Lebensräumen, sondern vor allem in der Vorstellung weißer Europäer*innen, wo sie bis heute neben Vorstellungen von fernen rassischen Anderen gedeihen.

Elias Brenner, Die erste Agave in Europa, 1708

Kulturelle Wertdarstellungen wie die Seltenheit eines Kaktus, der aus seinem trockenen Lebensraum entfernt und in die Kultureinrichtungen und Sammlungen wohlhabender Europäer*innen verpflanzt wurde, propagieren weit verbreitete Vorstellungen über die Trennung von Pflanzen und Natur von den menschlichen Gemeinschaften, die seit Jahrtausenden mit ihnen zusammenleben. Wie eine Fata Morgana, die mit Händen nicht zu greifen ist, vermitteln diese Trugbilder von Wert Macht, ohne irgendeine logische Grundlage in der Biologie oder gelebten Erfahrung zu haben. Koloniale Fantasien verändern die physischen Realitäten von Menschen und nicht-menschlichen Organismen. Für indigene Gemeinschaften wie die Taino und später für die versklavte afrokaribische Bevölkerung bestand die Realität darin, dass ihre Exotik für die Europäer*innen nur in dem Maße wertvoll war, wie sie Europa bereichern und den Schein der Überlegenheit aufrechterhalten konnten. Darüber hinaus bedrohte die Menschlichkeit der Nichteuropäer die Fähigkeit europäischer Institutionen, der Welt, die sie neu nannten, Charaktereigenschaften und einen Wert zuzuweisen. Die Technologie der Rasse regelt noch immer, wer als wertvoll und damit als sicherheitswürdig und schützenswert gilt.[7] Im 21. Jahrhundert sind die kulturellen Medien, der Wissenschaftsbetrieb und die politische Ökonomie von denselben Ideen durchdrungen, die einst den Kaktus zu einem Schatz und den beziehungsweise die Afrikaner*in zu einem Sklaven oder einer Sklavin machten. Die gegenwärtige Dringlichkeit, die biologische Vielfalt charismatischer Pflanzen und Tiere vor dem Massensterben zu bewahren, ist unglücklich mit der unverhältnismäßigen Bedrohung durch den Klimatod verwoben, der nicht-weiße Bevölkerungsgruppen weltweit betrifft. Der Klimawandel hat das Schrumpfen der imaginären Kluft zwischen exotischen und wertvollen Pflanzen, die es zu retten gilt, und den rassifizierten Anderen, die es bestenfalls zu ignorieren gilt, beschleunigt. Kunst, Wissenschaft und zivilgesellschaftliche Strukturen füllen nun diese koloniale Lücke und bieten die Möglichkeit, den Exotismus zugunsten einer tieferen Empathie für die menschliche und nicht-menschliche Welt zu zerstören.

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  1. Paul G. Zolbrod, Diné bahan’: The Navajo Creation Story, Albuquerque: University of New Mexico Press 1984; Daisy Ocampo, »Spiritual Geographies of Indigenous Sovereignty: Connections of Caxcan with Tlachialoyantepec and Chemehuevi with Mamapukaib«, Diss., University of California, Davis, 2019.
  2. John S. Allen, »Franz Boas’s Physical Anthropology: The Critique of Racial Formalism Revisited«, Current Anthropology, 30, 1, Februar 1989, S. 79–84. Online: www.jstor.org/stable/2743310.
  3. R. A. Donkin, »Spanish Red: An Ethnogeographical Study of Cochineal and the Opuntia Cactus«, in: Transactions of the American Philosophical Society, 67, 5, 1977, S. 1–84. DOI: 10.2307/1006195.
  4. Christopher M. Parsons, »Plants and Peoples: French and Indigenous Botanical Knowledges in Colonial North America, 1600–1760«, Diss., University of Toronto, 2011.
  5. Stephen Gasteyer und Cornelia Flora, »Modernizing the Savage: Colonization and Perceptions of Landscape and Lifescape«, in: Sociologia Ruralis, 40, 1, 2000, S. 128–149.
  6. Londa Schiebinger, Plants and Empire: Colonial Bioprospecting in the Atlantic World, Cambridge, MA: Harvard University Press 2004.
  7. Daniel Faber und Christina Schlegel, »Give Me Shelter from the Storm: Framing the Climate Refugee Crisis in the Context of Neoliberal Capitalism«, in: Capitalism Nature Socialism, 28, 3, 2017, S. 1–17. DOI: 10.1080/10455752.2017.1356494