Pflanzensex

Amirio Freeman

»Polymorphe Perversität« als Portal.
Über Lili Elbe, Pflanzensex und neue Welten

»Das Ende einer Welt«

In den Trümmern der Corona-Pandemie stießen viele von uns auf die Überreste eines uralten, zur unantastbaren Wahrheit erklärten Mythos: Menschen sind zur Autonomie geboren und frei von den Anforderungen zwischenmenschlicher Beziehungen. Als sich die Unentbehrlichkeit von systemisch unsichtbar gemachten Menschen wie Pflegekräften, Beschäftigten der fleischverarbeitenden Industrie und Supermarktkassierer*innen abzeichnete, wurde deutlich, dass Lebendigsein gegenseitige Fürsorge und Anteilnahme erfordert. »Umsorgt zu werden«, schreibt die Autorin Anne Boyer, »bildet das unsichtbare Fundament der Autonomie, die notwendige Arbeit, die die Schwäche des menschlichen Körpers über seine Lebensspanne hinweg erforderlich macht«.[1]

Die ersten Monate der Pandemie, die sich anfühlten wie das Ende der Welt, erinnerten mich daran, dass die menschliche Existenz Solidarität mit und wechselseitige Konstituiertheit durch andere Menschen – und Wesen jenseits der menschlichen Sphäre – bedeutet.

Während ich Gebäck und CARE-Pakete von Freunden erhielt, mich mit meinem Partner heimelig einrichtete und digitale Zusammenkünfte mit geliebten Menschen organisierte, knüpfte ich eine fürsorgevolle Beziehung zur Welt der Pflanzen. Inspiriert von Personen in meinem Leben, die sich dem Wachstum in jeder Form verschrieben hatten – Familienzuwachs durch Schwangerschaften, Aufbau von horizontalen Netzwerken zur gegenseitigen Hilfe –, entdeckte ich in der Pflanzenzucht ein zusätzliches Hilfsmittel, um die globale Pandemie zu überstehen.

Gemeinsam mit meinem Partner ergänzte ich unser wachsendes häusliches Ökosystem durch neue Zimmerpflanzen: Ein duftender Plectranthus tomentosa und ein Jalapeño gesellten sich zur Fensterbank, ein ausladender Lavendel und diverse Kräuter fanden Platz auf der Terrasse. Wir züchteten Monsteras. Trotz unserer amateurhaften Pflege gedieh der Garten mit winterhartem Blattgemüse, Rosenkohl und Herbststauden prächtig. Wie stets in der Geschichte der Menschheit trug die Flora aktiv zu unserem Überleben bei, in Form von Medizin, Nahrung, Sauerstoff und Schönheit. Um den Philosophen Emanuele Coccia zu paraphrasieren: So wie wir unsere Pflanzen kultivierten, so begannen auch sie, uns zu kultivieren.

Neben materiellen und emotionalen Zuwendungen inspirierte uns unser grünes Kollektiv auch zum Nachdenken darüber, ob die menschliche Lebensweise – dieser auf Profite und Imperien fixierte Todeskult, der eine vernichtende Apokalypse entfesselt hat – ausreicht. Oder, so lautete die provozierende Frage, erfordert die Lebensweise des Menschen einen »Verrat der ganzen Spezies«, wie Alexis Pauline Gumbs, »hoffnungsvolle Schwester aller empfindungsfähigen Geschöpfe«, es so nachdrücklich formuliert hat?[2]

Wozu die sinnlose Eile und chronische Produktivität, wenn du dich in der Sonne ausstrecken kannst, in deinem eigenen Tempo und im Wissen, dass du an jedem beliebigen Tag nicht mehr leisten musst, als zu leben? Welchen Sinn macht es, andere zu unterwerfen und auszubeuten, wenn du deine natürliche Wechselbeziehung mit Vögeln, Bienen und dem Boden würdigen und dich über »Verwandtschaften jenseits der Taxonomie«[3] freuen kannst? Wie kannst du binäre Ordnungen verwerfen und durch eine Vielfalt an Erscheinungsmöglichkeiten in der Welt ersetzen, zum Beispiel indem du dich gegen die Errichtung von Systemen stellst, die ausschließlich Sukkulenten privilegieren, auch wenn Sukkulenten nicht einzigartig sind in ihrem Recht auf Leben? Wie kannst du dich neu orientieren und dir nur das nehmen, was du wirklich brauchst (Nährstoffe, Wasser), ohne zu horten, was andere benötigen könnten? Als ich die Pflanzen in meiner Umgebung beobachtete – zu Hause, auf meinen Spaziergängen durch das Stadtviertel oder bei Ausflügen in den Park –, erkannte ich, dass der Zugang meiner botanischen Verwandten zum Leben die menschliche Existenzweise infrage stellt. Und dieses Infragestellen lud dazu ein, die Welt in ihrer gegebenen Form radikal auszulöschen. Pflanzen eröffneten mir das Portal zu einem weiter gefassten Repertoire an Möglichkeiten, das Leben auf der Erde zu ordnen; sie schleuderten der ruinösen Logik des imperialistischen, weißen, suprematistischen, kapitalistischen Patriarchats ein lehrreiches Fuck you! entgegen.[4]

Als ich glaubte, die Pandemie bedeute das Ende der Welt, versicherte mir die Pflanzenwelt, sie schaffe bloß Raum für das Ende einer Welt.

Das Einfühlen in pflanzliche und andere Epistemologien jenseits des Menschen – was können wir von der Perspektive des Ozeans lernen, welchen Einfluss könnte die Sichtweise von Bakterien auf die menschliche Zukunft haben etc. – scheint eine der entscheidendsten planetarischen Gesundheitsinterventionen zu sein. Und das war schon immer so. Die permanente Dynamik, mit der menschliche und pflanzliche Lebensformen aufeinander einwirken, schafft unzählige Möglichkeiten zum Überschreiten der Grenzen, die unseren Körpern und dem Fleisch dieser Welt auferlegt sind.

Das Leben von Lili Elbe, mit seinen vielfältigen Bezügen zur Pflanzenwelt, kann hier als Möglichkeitsmodell dienen.

»Pflanzen stellen die infamste aller subtilen Beleidigungen dar«

[W]enn alle gleich sind, dann kommt es auf die Feinheiten an. Mit anderen Worten, wenn ich eine Black Queen bin und du eine Black Queen bist, dann können wir einander nicht als »Black Queens« bezeichnen, weil wir beide Black Queens sind. Das ist kein Dissen – es ist eine Tatsache. Also sprechen wir über deine lächerliche Gestalt, dein schlaffes Gesicht, deine geschmacklose Kleidung. Das Dissen hat sich dann weiterentwickelt, hin zur subtilen Beleidigung [shade]. Das heißt, ich sage dir nicht, dass du hässlich bist, das ist auch gar nicht nötig, weil du weißt, dass du hässlich bist. Das ist subtiles Beleidigen.[5]

– Die US-amerikanische Drag Queen Dorian Corey im Dokumentarfilm Paris brennt (1990)

Lili Elbe und Claude Lejeune in Frankreich, 1928

Das Schwarzweißfoto zeigt zwei Personen – links einen Mann, rechts eine Frau –, die es sich offensichtlich im Sand gemütlich gemacht haben. Die von den beiden eingenommenen Posen könnten Georges Seurats Un dimanche après-midi à l’île de la Grande Jatte (Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte) entsprungen sein. Auf den ersten Blick drängt sich mir der Eindruck auf, dass sich die Frau, der hypnotische Mittelpunkt der Aufnahme, bewusst inszeniert: Ihr Make-up verrät, dass es gewollt sorgfältig und mit Bedacht aufgetragen wurde. Das Haar unter dem Hut ist gestylt, der Schmuck gezielt platziert. Sie gebietet der Kamera, einen bestimmten Moment festzuhalten, nicht bloß die spontane Szene eines gemütlichen Ausflugs ans Wasser. Es ist das Kleid der Frau, das dieser Präsentation Nachdruck verleiht: ein ärmelloses Teil mit einem üppigen Muster aus sattgrünen, offenbar tropischen Pflanzen, die an einem Gitter emporranken. Der Blumendruck, über alle Zeiten und Kulturen hinweg als eindeutig weiblich interpretiert, wird in dieser zugespitzten Inszenierung des Geschlechts zum Komplizen der Frau.

Die erste Zeile der Bildunterschrift weist das Foto als Porträt von Lili Elbe und »ihrem Freund« Claude Lejeune im Europa der Zwischenkriegszeit aus. Die zweite Zeile – »(VOR DER OPERATION)« – zeigt, dass die Aufnahme entstand, ehe sich Elbe zwischen 1930 und 1931 als erste historisch bezeugte Person mehreren geschlechtsangleichenden Eingriffen unterzog. Ihr fiktionalisierter Lebensbericht mit dem Titel Fra Mand til Kvinde (Vom Mann zur Frau) gilt heute als wegweisendes Transgender-Narrativ. Das Elbe zugeschriebene unveröffentlichte Vorwort dazu beschreibt sie als erste Person, die »nicht unbewusst durch einer Mutter Schmerzen geboren wurde, sondern voll bewusst durch eigene Schmerzen«.[6]

Nun, das Foto von Elbe und Lejeune ist ein Palimpsest: Es ist eine durch visuelle Technik verewigte Erinnerung; zugleich repräsentiert es das von Elbe kultivierte Proto-Selbst. Der Schnappschuss als Ganzes funktioniert, um es mit Katie Sutton zu sagen, wie eine Reihe von »Trittsteinen hin zu einer anderen Realität«, er »vermittelt und prägt« Elbes Subjektivität.[7] Speziell die Kleiderwahl ist mehr als eine modische Aneignung der Flora, sie mobilisiert auch die Bedeutung, die Menschen mit Pflanzen verbinden, und trägt so zu Elbes heranreifender Identität bei. Eine mit Blumenmuster bekleidete Lili – die ihren Nachnamen in Elbe änderte, in Anlehnung an den deutschen Fluss, einen »Zeugen ihrer Wiedergeburt« – verweist in mehrfacher Weise auf die außermenschliche Sphäre, um eine Welt zu verwirklichen, in der eine Transfrau berühmt werden, in der Sonne liegen und für die Kamera posieren kann.[8]

Gerda Wegener, Porträt Lili Elbe, 1920er Jahre. Lili Elbe Digital Archive

Kleidung spielt in Elbes Entwicklung eine wesentliche Rolle. Sie beschreibt das gelegentliche Tragen von »Frauenkleidern« und das aushilfsweise Posieren als Modell für ihre Ex-Frau, die dänische Malerin Gerda Wegener, als ausschlaggebend für das Einleben in ihre Transidentität. Eine Textpassage in Mosaïques, einer Autobiografie von Elbes Freundin Hélène Allatini aus dem Jahr 1939, erzählt von einem ihrer ersten öffentlichen Ausflüge als Lili und davon, wie ihr die Menschen um sie herum halfen, ihre Authentizität mittels Kleidung zu verkörperlichen:

In den folgenden Wochen wurde für die arme Lili ein Traum wahr: Für ihren ersten Ausflug überraschte Gerda sie mit einem wunderschönen Pelzmantel und führte sie anschließend in die Geschäfte, um all die Dinge auszuwählen, die in ihrer Ausstattung noch fehlten.[9]

Das Porträt von Lejeune und Elbe, einer dänischen Transfrau, die bei der Geburt dem männlichen Geschlecht zugewiesen wurde, erinnert an ein anderes Bild: ein GIF der vielseitigen amerikanischen Künstlerin Juliana Huxtable, die intersexuell auf die Welt kam und nach ihrer Geburt 1987 ebenfalls auf das männliche Geschlecht festgelegt wurde. Die geloopten Einzelbilder des GIF zeigen Huxtables Antwort auf die Frage eines unsichtbaren Interviewers: »Was ist die infamste subtile Beleidigung, die du jemals ausgeteilt hast?« Ihre knappe, aber schneidende Antwort: »In dieser Welt zu existieren.« [“What’s the nastiest shade you’ve ever thrown?” – “Existing in the world.”] Huxtable, personifizierte Störung in einem System der Zweigeschlechtlichkeit, verweist darauf, dass es für die dominanten Geschlechtererwartungen des Westens ein bedrohlicher Affront – ein Augenrollen, eine Taxierung, eine subtile Beleidigung – ist, Opazität auszuleben und eine Welt zu erschaffen, in der Geschlecht grenzenlos (oder gar nebensächlich) ist.

Juliana Huxtables Antwort auf die Frage “What’s the nastiest shade you’ve ever thrown?”, GIF

Allein durch ihre öffentliche – heliotrope – Präsenz stellt auch Elbe eine subtile Beleidigung dar und nimmt die Geschlechtergrenzen ihrer Zeit ins Visier. Ebenfalls im Vorwort zu Fra Mand til Kvinde erläutert sie, dass ihre Existenz eine Grenzüberschreitung bedeutete, und zwar so sehr, dass ihre Positionalität für die damalige Gesellschaft vollkommen unbegreiflich war:

[I]ch [bin] das einzige Wesen, ausserhalb aller Gesetze stehend, das heisst, von keinem Gesetzgeber vorher in Betracht gezogen […] innerhalb einer Gesellschaft, die nur auf das Normale, Alltägliche, Allgewöhnliche eingestellt ist.[10]

Sie beschreibt des Weiteren, wie ihr Weg auf Bewunderung und Mitleid zugleich stieß, als das internationale Interesse an ihrer bahnbrechenden Transition explodierte:

In den Zeitungen aller Länder und aller Sprachen hat man mein einzigartiges Geschick besprochen, hat von einem Wunder geschrieben und dennoch fast immer mich als ein degeneriertes und unglückliches Wesen betrachtet.
Die dies taten, haben sich geirrt.
Nur wer mich nicht gesehen hat, konnte sich so über mich äussern. Ich bin gesund, froh und glücklich.

Noch gehässiger als Huxtable und Elbe zusammen genommen sind Pflanzen, sie stellen die infamste aller subtilen Beleidigungen dar. Elbes Leben markiert einen Meilenstein in dem Bemühen, die Fundamente eines unheilvollen und in sich trügerischen Zwei-Geschlechter-Systems aufzubrechen. Doch schon davor hatte die aufkommende Pflanzenforschung den menschlichen Zugang zum Leben als unzulänglich, einfallslos und gewaltvoll entlarvt – und sie half auch den fruchtbaren Boden zu schaffen, aus dem Elbe hervorgehen sollte.

»Botanische Neigungen, Vergnügungen und Begierden«

Im 17. und 18. Jahrhundert löste das Zusammenspiel von Kolonialismus, Handel und Wissenschaft im Westen eine Welle der Begeisterung für das Leben der Pflanzen aus. Im Mittelpunkt dieser Faszination standen Fragen der pflanzlichen Sexualität. Zum maßgeblichen Architekten dieser Epoche avancierte der schwedische Wegbereiter der Taxonomie Carl von Linné, der für die Katalogisierung von Pflanzen schlüpfrige Schemata einführte.

Im Jahr 1735 veröffentlichte Linné sein Werk Systema Naturae, in dem er eine Methode zur Klassifizierung der »Naturwelt« in Form von drei Reichen (Tiere, Mineralien und Pflanzen) vorschlug. Der Pflanzenteil verortet sein taxonomisches Modell in einem imaginären botanischen Boudoir und stellt ein anthropomorphes »Sexualsystem« vor, dem das Konzept der nuptiae plantarum – der »Pflanzenehe« – zugrunde liegt.

Tafel aus Carl von Linnés Systema Naturae, 1735, mit Staubblättern, die er aufgrund ihrer männlichen Fortpflanzungsfunktion als »Ehemänner« beschreibt

Das vom Menschen abgeleitete Vokabular des heteronormativen Eheglücks zieht sich durch Linnés Ordnungsmethode. Staubblätter werden zu »Männern«, Stempel zu »Weibern«. Die vegetabile Anatomie verwandelt sich in eine erotische Bühne für den Vollzug der Pflanzenehe.

Die Blütenblätter […] dienen als Brautbett, das der Schöpfer so herrlich eingerichtet […] und mit so vielen süßen Wohlgerüchen erfüllt hat, dass Bräutigam und Braut dort in größter Festlichkeit Hochzeit feiern können. Ist das Bett auf diese Art bereitet, so ist es Zeit für den Bräutigam, seine geliebte Braut zu umarmen und ihr seine Geschenke darzubieten.[11]

Abwandlungen der Pflanzenehe beziehungsweise unterschiedliche Anordnungen von Männern und Weibern bilden die Grundlage der Klassifikation. Klassen (sie stehen für die höchste Rangstufe des Ordnungssystems) bestimmen sich nach »Anzahl, relativer Proportion und Lage« der Staubblätter, während sich Ordnungen (als zweithöchste Rangstufe) an analogen Kriterien für die Stempel orientieren – ein Ausdruck des Bestrebens, die patriarchale Logik auch im pflanzenzentrierten System abzubilden.[12] Gleichzeitig erlauben es die Klassifikationsprinzipien dieser Methode, eine große Bandbreite an botanischen Neigungen, Vergnügungen und Begierden zu artikulieren und zu dokumentieren, vom Normativen und Vertrauten bis zum Grenzüberschreitenden und Verbotenen (zumindest nach menschlichem Dafürhalten). Monandria ist die Bezeichnung für eine Klasse von Pflanzen, die »Monogamie« betreiben. Manche Pflanzen kennen Ehen mit mehreren – gelegentlich zwanzig – Männern. In Linnés XIII. Klasse, Polygamia genannt, finden wir »Männer und Weiber und Unverehelichte«, die »in unterschiedenen Kammern zusammenwohnen«.[13]

Ungeachtet ihrer scheinbaren Unkompliziertheit erweist sich die Methode letztlich als unzureichend, da sich einige Pflanzen in diesem System der Einordnung in Hierarchien widersetzen: Die XXIV. Klasse, Cryptogamia, besteht aus Moosen, Flechten, Farnen und anderen Pflanzen, die in »heimlicher« Ehe leben oder sexuelle Mechanismen besitzen, die als unentschlüsselbar galten. Trotz funktionaler Unzulänglichkeiten – verursacht durch die Weigerung der Pflanzenwelt, sich einhegen zu lassen – klingt in Linnés Erfindung die Möglichkeit eines »naturalisierten« Spektrums an Geschlechter- und Sexualbeziehungen an. Sein System bildet den Ausgangspunkt, um das fantasievolle Kontinuum namens Menschheit abzubilden, dabei hinterfragt und verdeutlicht es Wege, »die menschliche Sexualität anders zu organisieren, zu handhaben und zu erfahren«.[14]

Linnés Methode speiste eine Denktradition, die in Pflanzenerotik eine Folie zur Entwicklung neuer Bezugssysteme für das menschliche Leben sah – und wurde zunehmend populär, während sie den Blick auf alternative, von Zeitgenossen entwickelte Systeme verstellte. Manche folgten seinem Beispiel, andere erhoben kritisierend den Zeigefinger. 1789 veröffentlichte Erasmus Darwin, britischer Arzt, Philosoph, Naturforscher, Dichter und Großvater von Charles Darwin, das zweiteilige Gedicht The Botanic Garden, das Linnés botanische Metaphern aufgriff und auf die Spitze trieb. Mehrere Kritiker äußerten sich zur begrenzten Anwendung und Vulgarität des Systems; Johann Georg Siegesbeck, deutscher Botaniker und eingefleischter Gegner von Linné, fragte: »Wer hätte gedacht, dass Glockenblumen und Lilien und Zwiebeln so unmoralisch sein können?«[15] In Siegesbecks Frage schwingt das aufkommende Unbehagen darüber mit, welcherlei menschliche Welten die »sexuellen Liebschaften« der Pflanzen hervorbringen könnten. Vielleicht eine Welt, in der Transsein etwas Normales und Alltägliches ist?

Nicht nur Pflanzen, auch queere zoologische Phänomene machten den rigiden menschlichen Kategorisierungen zu schaffen. Beispielhaft für diese Geschichte ist der deutsch-jüdische Arzt Magnus Hirschfeld. Dieser gilt nicht nur als einflussreicher Erforscher der Sexualität und des biologischen beziehungsweise sozialen Geschlechts, er war auch ein medizinischer Verbündeter von Lili Elbe.

Ein Eckpfeiler von Hirschfelds Arbeit bestand darin, die Ausformungen »sexueller Zwischenstufen« beim Menschen aufzuzeigen – der von ihm geprägte Begriff verweist auf die Theorie, dass »Geschlecht in einem Kontinuum zwischen den entgegengesetzten Polen Männlich und Weiblich existiert«.[16] Ähnliche intellektuelle Bestrebungen führten zu einem wachsenden wissenschaftlichen Kanon, der eine Entmystifizierung von sexuellen und geschlechtlichen Varianzen in der nicht-menschlichen Sphäre vorantrieb. Der deutsch-jüdische Genetiker Richard Benedict Goldschmidt konnte »durch Paarung unterschiedlicher geografischer Varietäten Zwischenstufen zwischen männlichen und weiblichen Schwammspinnern« nachweisen.[17] Der österreichische Physiologe und Endokrinologe Eugen Steinach mutmaßte unter Verweis auf seine Experimente mit Meerschweinchen und Ratten, dass die »Geschlechtsmerkmale stets durch eine Funktionsmodulation der Keimdrüsen geändert werden können«, was auf eine Formbarkeit der Sexualität hindeutete.[18] Hirschfeld führte diese und andere Themen des wissenschaftlichen Diskurses mit seinen sexualwissenschaftlichen Fragestellungen zusammen. Beweise für die fließenden Übergänge von Sexualität und biologischem beziehungsweise sozialem Geschlecht in der Natur spiegelten seiner Ansicht nach die sexuellen und geschlechtlichen Abstufungen beim Menschen wider, die er in autobiografischen Zeugnissen beobachtete, machten sie also zu einem biologischen Phänomen.

Die Idee, dass sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ein wesentliches Merkmal der menschlichen und mehr-als-menschlichen Existenz bildet, trieb nicht nur seine wissenschaftliche Arbeit an, sondern auch seine politischen Projekte. Hirschfeld (der selbst als queer gilt, auch wenn er sich nie outete) trat für die Rechte von Menschen mit abweichender sexueller und geschlechtlicher Identität ein und nutzte die aufkommende Tierforschung sowie die »moralische Autorität der Natur« für seine Argumentation, gerade Homosexualität sei eine organische, natürliche Spielart der menschlichen Erfahrung.[19] Gestützt auf tierische Zeugnisse bekämpfte er die Legitimität von § 175 des deutschen Reichsstrafgesetzbuchs, der homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte und als »widernatürliche« Abnormität bezeichnete. Er machte außer-menschliche Tiere zu Akteuren im Ringen um gesellschaftliche Reformen und spürbare Verbesserungen für Personen, die durch repressive Machtverhältnisse marginalisiert waren, und unterzog die Grenzen seiner Welt einer Neubewertung, indem er fragte: Warum sollte sexuelle und geschlechtliche Diversität den vollen Status eines Menschen als Person und Staatsbürger sowie die damit verbundenen Rechte im Übermaß bestimmen, wenn dieselbe Diversität auch bei unseren mehr-als-menschlichen Verwandten zu finden ist?

Lili Elbes Möglichkeit zur Transition steht in einer Linie mit historischen Bemühungen, die besonderen sexuellen und geschlechtlichen Dynamiken bei nicht-menschlichen Tieren ebenso aufzudecken wie die »für Menschen unvorstellbare polymorphe Perversität« von Pflanzen, um es mit dem Künstler Adham Faramawy zu sagen.[20] 1919 eröffnete Hirschfeld das Institut für Sexualwissenschaft, das verschiedene Leistungen anbot, von Unterweisungen in Ehe- und Verhütungsfragen bis hin zur Beratung von Menschen, die sich (nach heutiger Ausdrucksweise) als transgender identifizierten. An diesem Institut wurde auch Elbe »befragt, untersucht und fotografiert, ehe sie sich einer Reihe von [geschlechtsangleichenden] Operationen unterzog«.[21] Gefangen im rudimentären Verständnis von Fauna und Flora traf sie auf Menschen, Ideen und Methoden, die, angelehnt an das Vorbild nicht-menschlicher Wesen, umfassendere Vorstellungen vom menschlichen Leben ermöglichten und verwirklichen halfen.

Angesichts von Lili Elbes persönlicher Geschichte muss betont werden, dass die Entschlüsselung des menschlichen und außer-menschlichen Lebens in seiner Fülle nicht mit den Bemühungen weißer Männer beginnt oder endet. Die Kosmologien von Gemeinschaften, die in unterschiedlichen Regionen der Erde beheimatet sind, kennen Queer- und Transidentitäten ebenso wie komplexe, mannigfaltige Verflechtungen zwischen »Mensch und Natur«, die weit vor die hier besprochenen Zeiträume zurückreichen. Zudem können die oben beschriebenen Personen nicht erwähnt werden, ohne das Unrecht anzuerkennen, das ihre »Entdeckungen« verursacht haben. Aktuelle Untersuchungen von Linnés Erbe zeigen, dass sein Werk ein Wegbereiter des wissenschaftlichen Rassismus war; Magnus Hirschfelds Arbeit ging Hand in Hand mit rückschrittlichen eugenischen Bestrebungen. Die Wissenschaft hat das Potenzial, als spekulativer Raum zu fungieren und die Entwicklung von »Fortschritt« zu ermöglichen. Wird sie jedoch im Spiegel menschlicher Vorurteile betrieben, ist sie auch ein Ort der Gewalt, Vernichtung und anderer Konsequenzen, die bis heute fortwirken.

»Aufregende, neuartige und eruptive Wege vorwärts«

Angenommen, Pflanzen können helfen, die physischen Voraussetzungen zu schaffen, die eine Transfrau zu ihrer Verwirklichung benötigt. Welche anderen Wege gibt es, auf denen Pflanzenwissen zu einem Wandel unserer Welt beitragen kann? Das ist keine rhetorische Frage: Ich stelle sie mit allergrößter Dringlichkeit, besonders im Hinblick auf das, was für die Weltgemeinschaft auf dem Spiel steht. Gewässer stehen in Flammen. Der Faschismus gewinnt an Boden. Milliardäre vervielfachen ihre gestohlenen Gewinne und finanzieren damit ihren Wettlauf ins All. Wir sind heute mit einem Ausmaß an Gewalt konfrontiert, das J. T. Roane zufolge von unseren Gemeinschaften als Ganzes verlangt, die Konturen unseres modernen Lebens zu überdenken und »unser Privatleben aus der Ausbeutung, unsere Communities aus Käfigen, unsere Städte aus der Übernahme durch Konzerne und unsere Regierung aus der Vereinnahmung durch Schläger zu befreien«.[22] Pflanzen könnten der Kompass sein, den wir brauchen, um uns an unerforschte menschliche Horizonte heranzuwagen.

Nichts an unserer Lebensweise ist zwangsläufig vorgegeben. Die Art, wie Menschen ihre Umwelt regeln und erfahren, bietet unendlich fruchtbare Möglichkeiten für Irritation und Disruption, für Erneuerung und Abwandlung. So wie Pflanzen ihre angeborene grenzenlose Potenzialität nutzen und unsere Vorstellungen davon, was »natürlich« oder absolut ist, zunichtemachen, so sind auch wir gefordert, die volle Bandbreite unseres Menschseins auszuschöpfen, gerade wenn wir als Spezies überleben wollen. Das Anthropozän – eine der Bezeichnungen für die kulminierenden Auswirkungen der Kräfte, die die moderne Welt antreiben – »ist nicht ›menschlich‹ (das heißt im Homo sapiens, im genetischen Code unserer Art angelegt), sondern wurde von Menschenhand geschaffen«, erklärt Bl3ssing Oshun Ra, unabhängige*r Forscher*in und Künstler*in.[23] Und weiter, mit messerscharfer Präzision: »Es ist die Vorherrschaft der Weißen, die das System Erde destabilisiert, nicht die ›Menschheit‹.« Statt uns selbst und den Planeten vollständig zu verwüsten, können wir uns für aufregende, neuartige und eruptive Wege vorwärts entscheiden. Pflanzen können als Modell für die Abwägung dienen, welche todbringenden Architekturen wir zu Grabe tragen möchten, um Platz zu schaffen für die Weite lebensspendender Räume.

In einem Brief, den Lili Elbe 1939 an eine Freundin schrieb, schildert sie voller Verletzlichkeit ihren Gemütszustand, während sie sich auf ihre letzte geschlechtsangleichende Operation vorbereitet – jene, die zu ihrem Tod geführt haben dürfte:

Ich sitze draußen im Garten; doch es fehlt mir ein wenig an Mut und so bin ich genötigt, zwischen den leuchtenden Birkenbäumen herumzulaufen; ich weiß nur zu gut, was mich erwartet – und große Unterleibsoperationen sind schrecklich, aber ich denke wirklich gar nicht an den Tod; ich habe keine Erlaubnis dazu. Es wäre Verrat.[24]

Lili Elbe in Dresden, 1930. Lili Elbe Digital Archive

Ich sinne darüber nach, wie sich die Vegetation mit Elbe verbündet und ihre Selbstinszenierung unterstützt haben könnte; dabei erscheint mir diese Szene wie ein weiteres Beispiel für die Hilfe, die sie auf dem Pfad ihrer Selbstfindung durch Pflanzen erhielt – in diesem Fall durch die Aufmerksamkeit für ihr emotionales und psychisches Wohlbefinden. Zwischen meinem eigenen Pflanzenkollektiv sitzend stelle ich mir zugleich vor, wie Pflanzen die Menschen in ihrer Gesamtheit dazu anleiten können, furchtlos zu dem zu werden, was sie schon immer hätten sein müssen: fluide, geschmeidige, die selbst errichteten Grenzen ignorierende Wesen.

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Ausgewählte Literatur:


  1. Anne Boyer, The Undying: Pain, Vulnerability, Mortality, Medicine, Art, Time, Dreams, Data, Exhaustion, Cancer, and Care, New York: Farrar, Straus and Giroux 2019, S. 125.
  2. Gumbs, Dub: Finding Ceremony, Durham: Duke University Press 2020, S. x.; Alexis Pauline Gumbs, About. Online: www.alexispauline.com/about.
  3. Alexis Pauline Gumbs, Dub: Finding Ceremony, S. xii.
  4. Den Ausdruck »imperialistisches, weißes, suprematistisches, kapitalistisches Patriarchat« (engl. imperialist white supremacist capitalist patriarchy) verdanken wir der Autorin, Aktivistin und Kulturkritikerin bell hooks. Er beschreibt die repressiven Kräfte, die das Leben so vieler von uns bestimmen, eindrücklich als vielköpfiges Gebilde.
  5. starkeymonster, Dorian Corey on throwing shade (2011). Online: www.youtube.com/watch?v=Z2lEtUqxg44.
  6. Lili Elbe, Fra Mand til Kvinde, Lili Elbe Digital Archive, 2020, S. 1.
  7. Katie Sutton, »Sexology’s Photographic Turn: Visualizing Trans Identity in Interwar Germany«, in: Journal of the History of Sexuality, 27, 3, September 2018, S. 442–479, hier S. 474–475.
  8. Hélène Allatini, Mosaïques, engl. Übers. Anne M. Callahan, Lili Elbe Digital Archive, 2020, S. 227.
  9. Ebd., S. 221.
  10. Elbe, Fra Mand til Kvinde, S. 2.
  11. Martin Kemp, Visualizations: The Nature Book of Art and Science, Berkeley and Los Angeles: University of California Press 2000, S. 49.
  12. Londa Schiebinger, Nature’s Body: Gender in the Making of Modern Science, New Brunswick: Rutgers University Press 2004, S. 14.
  13. Jacob Bull und Margaretha Fahlgren, Illdisciplined Gender: Engaging Questions of Nature/Culture and Transgressive Encounters, New York: Springer International Publishing 2016, S. 121.
  14. Natania Meeker, »Thinking about Sex with Plants«, in: The Philosophical Life of Plants. Online: www.plantphilosophy.org.uk/histories-of-plant-thinking/thinking-about-sex-with-plants/.
  15. Kennedy Warne, »Organization Man«, in: Smithsonian Magazine, Mai 2007. Online: www.smithsonianmag.com/science-nature/organization-man-151908042/. Zitat aus dem Englischen zurückübersetzt.
  16. Ina Linge, »The potency of the butterfly: The reception of Richard B. Goldschmidt’s animal experiments in German sexology around 1920«, in: History of the Human Sciences 34, 1, 2021, S. 40–70, hier S. 41. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts unterschieden die Vorkämpfer der Sexualwissenschaft nicht zwischen transgeschlechtlicher und gleichgeschlechtlicher Identität. Später entwickelte sich ein neues Vokabular für die heute mit dem Begriff »transgender« bezeichneten Erfahrungen, darunter auch Hirschfelds Transvestit/in und Transvestitismus.
  17. Michael R. Dietrich, »Of Moths and Men: Theo Lang and the Persistence of Richard Goldschmidt’s Theory of Homosexuality, 1916–1960«, in: History and Philosophy of the Life Sciences 22, 2, 2000, S. 219–247, hier S. 220.
  18. Chandak Sengoopta, The Most Secret Quintessence of Life: Sex, Glands, and Bodies, 1850–1950, Chicago: University of Chicago Press 2006, S. 65.
  19. Hirschfeld war auch bekannt dafür, Menschen beim Erlangen von »Transvestitenscheinen« zu unterstützen, die es den Betroffenen erlaubten, sich öffentlich gemäß ihrer Geschlechtsidentität zu kleiden, ohne eine Verhaftung befürchten zu müssen. Vor dem Hintergrund der progressiven Weimarer Ära fiel die Ausstellung von »Transvestitenscheinen« mit ersten Ansätzen für eine vereinte »transvestitische« Position und Identität zusammen.
  20. Adham Faramawy im Interview mitKostas Stasinopoulos, »Skin Flick«, 2019. Online: www.vdrome.org/adham-faramawy/. Die Wortwahl verweist auf ein Konzept Freuds, demzufolge kleine Kinder »polymorphe« erotische Szenarien erforschen, ehe sie mit Glaubenssystemen indoktriniert werden, die zwischen »akzeptabel« und »pervers« unterscheiden.
  21. Emily Datskou u. a., »Public History«, Lili Elbe Digital Archive, 2020. Online: www.lilielbe.org/narrative/publicationHistory.html. Im 20. Jahrhundert verschob sich die sexualwissenschaftliche Beweisführung vom Sammeln gelebter Erfahrungen hin zur Verortung der »Wahrheit« in Fotografien. Dieser Schwenk sollte dem nach wie vor randständigen Forschungsfeld größere Glaubwürdigkeit verschaffen. Die Visualisierung der Sexualwissenschaft schuf ein wissenschaftliches Archiv an Transgender-Porträts – ein Archiv, das mit seinem »medizinischen Blick« zwar das Innenleben der Fotografierten unterschlug, ihnen aber auch die Chance bot, aktiv und bewusst an ihrer Selbsterschaffung mitzuwirken. Diese Verschiebung hin zur Fotografie erfolgte zeitgleich mit dem vermehrten Einsatz von visuellen Medien, die die menschliche visuelle Wahrnehmung erweitern wollten (z. B. Das Blumenwunder des deutschen Filmemachers Max Reichmann aus dem Jahr 1926 und die Pflanzenautographe des indischen Pflanzenphysiologen und Physikers Sir Jagadish Chandra Bose). Ziel war es, auch an Pflanzen Merkmale zu erkennen, die bislang nur dem Menschen und anderen Tieren zugeschrieben worden waren. Beide Entwicklungen weisen Visualität als ein Instrument zur Neuverhandlung der menschlichen Ontologie aus.
  22. James T. Roane, »Courting the End of the World: Heeding James Baldwin’s Invitation to take up a Dangerous Morality«, in: Brooklyn Rail, Oktober 2016. Online: brooklynrail.org/2016/10/criticspage/courting-the-end-of-the-world.
  23. K.D. »Wilson, Who’s Man is This? Black Radical Ecology and the Anthropogenic Question«, in: Red Voice, 2020. Online: /redvoice.news/black_radical_ecology_and_the_anthropogenic_question/.
  24. Lili Elbe, 1931-06-16 Letter to Maria Garland from Lili Elbe, Lili Elbe Digital Archive, 2020. Online: www.lilielbe.org/context/letters/1931-06-16ElbeGarland.html.